Segschneider rezensiert #03: Enrico Caruso – O sole mio

Enrico Caruso, Quelle: Wikimedia Commons, public domain

Und wieder erreicht mich ein eindrucksvoller Text unseres Freundes Segschneider:

Fast ein Jahrhundert

Enrico Caruso, Quelle: Wikimedia Commons, public domain
Quelle: Wikimedia Commons, public domain

1920 ist er abgetreten, mitten aus dem vollen Leben heraus, er hustete Blut auf offener Bühne – und ich stelle mir vor, dass die Lunge dem Druck der gewaltigen Töne, die er wie kaum ein Zweiter gesungen hatte, einfach nicht mehr standhielt. Seine ersten Tonaufzeichnungen begannen in einer Ära, in der die Edison-Wachswalze das Maß der Dinge war. Mit dem neuen Jahr- hundert startete dann der Siegeszug der Schallplatte, der – wie man sagt – von ihm und seiner Sangeskunst maßgeblich vorangetrieben wurde; Schallplatten von ihm waren sehr begehrt.

Einige Aufzeichnungen seiner Stimme sind erhalten. Kann man sie sich noch antun, oder ist das speziell auf einer empfindlichen Anlage unmöglich, weil nur noch Schmerz in den Ohren?

Selbstverständlich setzt die mangelhafte Technik Grenzen. Von HiFi ist nicht die Rede. Heute noch überlieferte Tondokumente – gleichgültig ob auf LP oder CD – sind zumeist von Schellackplatten der dreißiger Jahre überspielt. Ich habe übrigens einmal eine Kopie der ersten Tonaufzeichnung gehört, abgespielt von einem Demotonband des WDR. Denn, das ist vielleicht eine Überraschung für Heutige: bereits Thomas Alva Edisons Verfahren erlaubte die Vervielfältigung; sowohl die Wachswalzen als auch der Abspielapparat liessen sich duplizieren. Und, von einigem Rauschen und Knistern einmal abgesehen, der legendäre Text „Mary had a little lamb“ ist ohne weiteres zu verstehen. Schellackplatten zu überspielen erfordert Fingerspitzengefühl und Können. Je nachdem ob Innen-, Mitten- oder Aussenrille muss mit unterschiedlich dicken Saphirnadeln abgespielt werden, die so erhaltenen Schnipsel werden dann entrauscht, entzerrt, zusammengefügt. Es ist unvermeidbar, dass man die Schnittstellen bemerkt. Und das verbliebene Rauschen und Prasseln ebenso.

Aber dennoch. Nach den einleitenden Orchesterklängen macht der Sänger seinen Mund auf und singt auf schwindelerregende Weise. Er ist gewohnt, ein sehr grosses Opernhaus – seine Heimatbühne war die (alte!) MET in New York – ohne jede elektrische Verstärkung zu füllen. Dazu braucht es eine sieben-Liter-Lunge, das ist soviel wie bei einem Extrem-Ausdauersportler, einem Ironman zum Beispiel, einen Brustkorb wie eine Tonne, um hinter jeden Ton den entsprechenden Resonanzboden setzen zu können, und die notwendige Sangestechnik. Beim Einatmen stürzen, mit einem Geräusch wie bei einem Ertrinkenden, mehrere Liter Luft in die Lunge, von Atmung zu sprechen ist eigentlich eine groteske Untertreibung. Es hat etwas von brachialer Gewalt, einer extrem gebändigten Gewalt zwar, aber verglichen mit heutigen Stimmchen setzt ein Riesenraubtier zum Sprunge an: faszinierend, bedrohlich, unglaublich. Vibrato kommt so gut wie gar nicht vor, das hat dieser Sänger nicht nötig. Es sind Orgeltöne, die erklingen, hinter jedem Ton steht ein riesiges Luftreservoir.

Caruso in der Rolle des Camio in "Bajazzo", gezeichnet von Caruso selbst
Enrico Caruso: Selbstporträt als Camino in „Bajazzo“ (public domain)

Und dann: Fortissimo. Unwillkürlich hält man selber den Atem an. Die Töne sind von einer unglaublichen Wucht, nicht geschmettert, nicht geschrieen, sondern einfach nur groß und majestätisch. Trotzundalledem sind diese meine Beobachtungen eine Barbarei dem Künstler gegenüber. Denn er trägt gerade ein einfaches Lied vor, das er weltberühmt gemacht hat, und in jedem Ton, jeder Phrasierung ist die Liebe zu seiner Heimat zu spüren. Er kostet dies Liedchen aus, als sei es eine der grossen Arien, er agiert mit Hingabe, Leidenschaft, einer Leidenschaft, die sein ganzes Leben bestimmt hat, und mit tiefem künstlerischem Empfinden. Ich habe „O sole mio“ nie wieder von einem Anderen hören können, nachdem Enrico Caruso es einmal gesungen hatte. Mamma mia.

– seg –

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