Das perlt!

Glenn Gould
Glenn Gould © by Don Hunstein / Glenn Gould Foundation , via Wikimedia Commons

Genialisch-schrullige Menschen mag ich wirklich sehr. Das trifft auch auf den kanadischen Pianisten Glenn Gould (1932-1982) zu. Der ist besonders bekannt für seine Interpretationen der Werke Johann Sebastian Bachs. In meinem Plattenregal gibt es einige dieser Aufnahmen: die Goldberg-Variationen natürlich, aber auch die zwei- und dreistimmigen Inventionen, die Kunst der Fuge, das Italienische Konzert.

Beinahe ständig hört man Gould leise mitsummen – na ja, Keith Jarrett hat diese Angewohnheit auch, dem habe ich diese Schrulle aber längst verziehen und deshalb will ich auch mit Glenn Gould nicht allzu hart ins Gericht gehen.

Glenn Gould - Die zwei- und dreistimmigen Inventionen

Hin und wieder allerdings mache ich die Erfahrung, dass ich eine Gould-Aufnahme auflege und nach einigen Minuten wieder vom Plattenteller nehmen muss, weil ich plötzlich nervös und kribbelig werde – zuletzt beim Hören der Inventionen und Sinfonien Nr. 1-15. Ich habe lange überlegt, woher das kommt, aber ich finde keine Erklärung. Ähnlich nervöse Anwandlungen kriege ich beim gelegentlichen Versuch, Technomusik zu hören. Nicht, dass ich missverstanden werde: mir liegt es fern, Goulds Musik mit nerviger elektronischer Tanzmucke zu vergleichen. Mich fasziniert Goulds Bach-Interpretation sehr, aber meine Reaktion darauf ist wohl stimmungs- und tagesformabhängig – manchen Tags erscheint mir Goulds Bach eckig und kantig, mit allzu scharfen Konturen und das kann ich schlecht ertragen.


Wenn ich sicher gehen will, dass das nicht passiert, greife ich zu Bach-Aufnahmen von Friedrich Gulda (1930-2000). Auch der gehörte wohl zum Typus des schrulligen Genies. Als klassischer Pianist hoch gefeiert, spielte er bei Konzerten schon mal ganz andere Stücke als angekündigt, trat gar nackt mit Blockflöte auf. Er veröffentlichte „moderne Wiener Lieder“, zu denen er unter Pseudonym auch sang und wurde nicht zuletzt als Jazzmusiker bekannt.

Höre ich seine Aufnahme des wohltemperierten Klaviers von Bach, trägt mich die Musik mit sich. Ich schließe die Augen und im Kopf entstehen pulsierende, farbige Bilder geometrischer Figuren und Strukturen. Ist das schon Synästhesie? Dittsche würde wohl sagen „… das perlt!“ Damit hätte er wohl Recht, der neunmalkluge Bademantelträger. Ich drücke es anders aus: Friedrich Guldas Bach swingt!

Chick Corea & Friedrich Gulda - the meeting (LP 1983)Seitdem nun endlich auch Guldas legendäre Jazzplatte As You Like It im Hause ist und sich einigermaßen regelmäßig im CD-Spieler dreht, weiß ich, wie bei Gulda der Swing in den Bach kommt! Geahnt hatte ich das längst: seit 1983 begleitet mich die Live-Aufnahme the meeting, die Gulda gemeinsam mit Chick Corea beim Münchner Klaviersommer 1982 eingespielt hat – damals eilig gekauft, nachdem ich das Konzert im Fernsehen erlebt hatte. Jazz-Improvisation an zwei Klavieren, absolut hörenswert!

Friedrich Gulda - As You Like It (LP 1970)Doch zurück zu As You Like It. Schon das Label MPS (Musik Produktion Schwarzwald) des SABA-Erben Hans Georg Brunner-Schwer bürgt hier für hohe Produktions-Qualität – nicht umsonst wird diese Platte von audiophilen Hörern sehr geschätzt. Es geht die Mär, Brunner-Schwer habe seine Aufnahmen quasi im eigenen Wohnzimmer gemacht. In meinem Wohnzimmer jedenfalls macht sich Guldas Trio mit Johann Anton Rettenbacher (b) und Klaus Weiss (dr) ausgesprochen gut – die Schallereignisse sind in Richtung und Tiefe genauestens zu lokalisieren. Wie diese Aufnahme das kraftvoll-dynamische Spiel Guldas auf dem Piano einfängt, ist einfach atemberaubend!

Die Titelauswahl: keine Experimente, bis auf einen Titel Jazzstandards, folgerichtig heißt die Platte As You Like It – Was Ihr wollt. Das Album beginnt mit der Oscar Peterson-Komposition Blues for H.G., dem Produzenten H.G. Brunner-Schwer gewidmet. Locker-flockig (um mal diese gern verwendete Vokabel zu benutzen) swingt sich das gut aufeinander eingespielte Trio durch Klassiker wie What Is This Thing Called Love, All Blues oder Round Midnight und weiß einen dabei durchaus mitzureißen. Lediglich „Light My Fire“ – eine zu lang geratene Doors-Coverversion – nervt und langweilt.

Mit dem Track East Of The Sun (And West Of The Moon) – leider nur mit einem Standbild, das allerdings rechts Friedrich Gulda und links den Produzenten H.G. Brunner-Schwer zeigt – verabschiedet sich der Audionist nun in den Restsonntag!

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Netzteil für einen Röhrenverstärker #1

Vorwort

Nachfolgend beschreibe ich den Aufbau einer höchstwertigen, RC-gesiebten Spannungsversorgung für einen Röhrenverstärker mit der PL82 als End- und der PC86 als Vorröhre. Im Zusammenhang mit der von Wilimzig/Gysemberg veröffentlichten PL82-Endstufe („Höchst Empfindlich“) sind zu solchen Netzteilen bereits diverse Meinungen publiziert worden – unter anderem die, ein solcher Verstärker sei nicht mehr vorstellbar, da die Autoren es ablehnten, in Zukunft weiterhin Netzteile für Dritte zu berechnen. In Widerlegung dessen werde ich zunächst darstellen, welche Anforderungen solche Schaltungen erfüllen müssen und detailliert erklären, wie die erforderlichen Dimensionierungen zu bestimmen sind. Die Konstruktion einer RC-gesiebten Spannungsversorgung ist kein Hexenwerk – alles, was man dazu braucht, ist in der Literatur hinlänglich beschrieben. Unüblich ist es lediglich, eine Endstufe mit einer solchen Siebung auszustatten. Welche Vorteile es aber hat, wenn man es dennoch tut, wird ebenfalls erläutert werden.

Dem aufmerksamen Leser wird auffallen, dass das von mir beschriebene Netzteil für Spannungen von 260V für die Vor- und 245V für die Endröhre ausgelegt ist. Diese Daten korrespondieren mit einer Endstufenschaltung, die ebenfalls auf diesen Seiten veröffentlicht ist. Alle diejenigen, die die originale PL82-Schaltung dieserart mit Spannung versorgen wollen, finden in diesem Aufsatz das notwendige Rüstzeug für eine dazu passende Teile-Dimensionierung.

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Ein unbekannter Netztrafo

Achtung! Unbedingt Gefahrenhinweis zum Umgang mit hohen Spannungen beachten! Trenntrafo verwenden!

Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist ein wunderschöner alter Netztrafo von GRUNDIG mit der Bezeichnung BV 9007-501, Kerngröße M85:

GRUNDIG-Trafo, Bild 1
Netztrafo GRUNDIG BV 9007-501

Zu meinem Glück hängt noch der Spannungswähler an den Anschlüssen der Primärwicklung, so dass ich mit deren Bestimmung keine Probleme habe:

GRUNDIG-Trafo, Bild 2
Primärspannungswähler

Ich entscheide mich, aus meinem Regeltrenntrafo (der schützt mich vor der gefährlichen Netzspannung, siehe den Gefahrenhinweis) 230 Volt (entspricht der Netzspannug) auf die Anschlüsse 0 und 220 Volt der Primärwicklung zu geben. Im Leerlauf messe ich daraufhin an den Sekundärwicklungen 7 Volt (das ist die Heizspannungswicklung), 21,5 Volt (diente früher eventuell der Erzeugung einer negativen Gittervorspannung) und 250 Volt (das ist die Anodenspannungs-Wicklung). Letztere soll uns nun weiter interessieren.

Um die Tauglichkeit des zu untersuchenden Netztrafos für Röhrenprojekte zu testen, muss ich untersuchen, wie er sich unter Belastung verhält. Dazu baue ich eine kleine Testschaltung auf:

Trafotest
Testschaltung für den zu untersuchenden Netztrafo

Die ist schnell erklärt: der Trenntrafo sorgt für eine galvanische Trennung der Testschaltung vom Lichtnetz. Die 230 Volt AC an seinem Ausgang speisen den Testling, und zwar an dessen 220 V-Primäranzapfung (in früheren Zeiten führte das Lichtnetz nur 220 V). Ohne Belastung liefert die Sekundärwicklung 250 Volt AC. Diese Spannung wird gleichgerichtet und vom 220µF-Ladeelko geglättet. Theoretisch stehen im Leerlauf am Elko nun 250 V x √2 = 353,5 V an, ich messe 345 V. Dies ohne Lastwiderstand am Ausgang, I = 0 mA. Dieses Wertepaar trage ich in ein kleines Diagramm ein, und zwar oben links:

Trafotest Belastungskurve
zum Vergrößern anklicken

Nun beginne ich, mit Hochlastwiderständen den Trafo zu belasten. Praktisch geschieht das so, dass ich dem Ladeelko einen Lastwiderstand parallel schalte und dabei die resultierende Gleichspannung messe, die am Lastwiderstand anliegt. Beispiel: belaste ich die Testschaltung mit einem Lastwiderstand von 5 kOhm, ergibt sich eine Spannung von 300 Volt. Laut Ohmschem Gesetz fließt ein Strom von 300 V / 5000 Ohm = 0,06 A oder 60 mA.

Wer’s nachmachen will, beachte bitte, hoch belastbare Widerstände zu verwenden. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: der 5000 Ohm-Widerstand muss eine Leistung von 300 V x 0,06 A = 18 Watt in Wärme umsetzen!

Ich bastele aus vorhandenen Hochlastwiderständen verschiedene Werte zusammen, setze sie in die Testschaltung ein und erhalte entsprechende Messwerte, die ich in mein Diagramm einsetze. Die Ergebnisse liegen in einem weiten Bereich auf einer angenäherten Geraden – das war so zu erwarten und zeigt mir einerseits, dass meine Messungen plausibel sind. Andererseits ist das ein Zeichen dafür, dass der Trafo für den beabsichtigten Zweck brauchbar ist.

Jetzt wird’s noch mal spannend: ich will wissen, ob der Trafo auch einer Dauerbelastung standhält. Da ich nicht genügend hochbelastbare Widerstände in der Bastelkiste habe, helfe ich mir mit einer Glühlampe als Last. Ich baue die folgende Testschaltung auf:

Trafotest Dauerbelastung
zum Vergrößern anklicken

Zu meiner Freude stelle ich fest, dass der Trafo unter diesen Bedingungen nach 90 Minuten lediglich handwarm geworden ist und sich seine Betriebswerte nur unwesentlich geändert haben. Ich weiß nun, dass mir der Trafo bei einem Strom von 106 mA 274 V zur Verfügung stellt, also rund 280 Volt bei 100 mA (siehe auch Diagramm oben). Das ist eine Leistung von 28 VA. Dazu kommen 7 Volt Heizspannung bei geschätzten 4 A Belastbarkeit, also nochmals 28 VA, macht zusammen 56 VA.

Es gibt ein paar Faustregeln, wieviel ein Trafo zu leisten imstande ist:

  • Faustregel Gewicht: 40 VA je kg. Demnach hätte der GRUNDIG-Trafo bei 1,8 kg Gewicht eine Leistung von 72 VA
  • Faustregel Kernquerschnitt: (Querschnitt in cm²)². Demnach leistete der GRUNDIG-Trafo (Paketstärke (in cm) x Zungenbreite (in cm))² = (3,4 cm x 3,2 cm)² = 10,88² = 118 VA.

Nun ja, ich denke, die Wahrheit wird irgendwo dazwischen liegen. Immerhin habe ich nun das beruhigende Gefühl, mich mit den von mir ermittelten Betriebwerten im sicheren Bereich zu bewegen.

Der Trafo ist damit auf seine Tauglichkeit für ein Röhrenverstärker-Netzteil untersucht. Jetzt wollen wir sehen, wie aus der Trafospannung eine gut gesiebte Gleichspannung wird.

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Herbstlied

Hans Eckhard Wenzel, Poet und Liedermacher schon in der DDR, war mir vor ein paar Monaten noch völlig unbekannt, als ich im Radio WDR3 ein Konzert mit ihm und seiner Band hörte, aufgenommen in der Kulturkirche in Köln-Nippes. Ich war begeistert und sprach eine Freundin darauf an, die sich in der Liedermacherszene der neuen Bundesländer ganz gut auskennt und sofort Bescheid wusste. Sie versorgte mich mit einigen CDs, so dass ich mich einhören konnte, darunter das Album „Stirb mit mir ein Stück – Liebeslieder“ von 1986. Davon hier Wenzels Herbstlied „Feinslieb, Du lachst dazu“.

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Ein Musikant, ein Sprachkünstler sondergleichen, dem ich stundenlang zuhören kann. Und ein Philosoph ist er auch, wie man hier erfährt:

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Viel Spaß mit beidem!

Cecile McLorin Salvant

Cecile McLorin Salvant - by Miami6205 (Own work) [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons
Cecile McLorin Salvant – by Miami6205 (Own work) [CC BY-SA 3.0 ], via Wikimedia Commons

„Auf diese Stimme haben Jazzfans gewartet“

überschrieb Matthias Wegner seinen Beitrag über Cecile McLorin Salvant auf Deutschlandradio Kultur, den man mit Gewinn hier nachlesen und zumindest noch eine Weile lang anhören kann. Seither beschäftige ich mich in mancher freien Minute mit dieser jungen US-amerikanischen Sängerin und ihren Spuren im Netz. Was man dort findet, kann nur begeistern. Ich empfehle ein einstündiges Video eines Auftritts beim Jazzfestival im französischen Marciac im August 2014. Die Sängerin und das Trio des Pianisten Aaron Diehl lieferten dort einen atemberaubenden Auftritt ab!

Zur Einstimmung als kleine Kostprobe ein Ausschnitt aus diesem Konzert: „John Henry“, ein Song über den amerikanischen Volkshelden, an dessen Legende sich auch schon andere Musiker (vgl. Wikipedia: Johnny Cash, Pete Seeger, Joe Bonamassa, Van Morrison, Bruce Springsteen, Harry Belafonte, Jerry Lee Lewis u.a.) abgearbeitet haben.  – Hier fasziniert mich neben der Sängerin wieder mal besonders der Bassist, in diesem Fall Paul Sikivie. Viel Spaß!

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Segschneider #04

Diesmal politisch völlig unkorrekt: über künstlerische Freiräume im ehemaligen Ostblock

Ach, ich freu mich: kaum ist das neue Blog eröffnet, meldet sich auch Segschneider zurück! Hier seine aktuellen Betrachtungen über Streicher-Quartette im „real existierenden Sozialismus“:

Peter I. Tschaikowski - Streichquartett F-dur op. 22 - Borodin-Quartett
Peter I. Tschaikowski – Streichquartett F-dur op. 22 – Borodin-Quartett – Eterna

Zwar ist es schon länger her, dass wir – der siegreiche Westen – den sogenannten Sozialismus bezwungen haben. Weil wir so ungeheuer erfolgreich sind, wirtschaftlich vor allem. Der westliche Kapitalismus ringt alles nieder; in der jüngsten, aber nicht letzten Krise hat er beinahe sich selbst niedergerungen. Ob er sich selbst überwinden kann, ist noch offen.

Aber das darf man derzeit wohl immer noch nicht, den ehemaligen Ostblock als ein Paradies schildern. Er war eines, und er ist immer noch ein paradiesischer Ort für Ballettliebhaber, Musikliebhaber im Allgemeinen und Quartettafficionados im Besonderen. Es wird wohl etwas mit den Arbeitsbedingungen zu tun haben, die dort herrschten. Am Moskauer Zentralismus – das dortige Konservatorium hatte unbestreitbar die Führungsrolle – hat es eher nicht gelegen. Denn die Franzosen, ein nicht minder zentralistisches Völkchen, haben diese Fülle atemberaubend guter Quartettspieler bisher nicht hervorgebracht.

Bleiben die übrigen Arbeitsbedingungen. Ich halte es für zutreffend, dass Quartettspiel nicht nur eine Lebensaufgabe ist, sondern dass ein Zusammenspiel umso besser werden kann, je länger und bewusster die vier Musikanten miteinander umgehen. Quartett erwächst aus gemeinsamem Leben. Es nützt gar nichts, vier Superstars aus allen Kontinenten einzufliegen und zu sagen: nun spielt mal schön. Das ist eher kontraproduktiv und wird sehr leicht die Karikatur eines Quartetts.

Von Karl Kraus konnten wir erfahren, dass der gute Schreiber des Zensors bedarf: erst der Zensor würde ihn zwingen – so argumentiert Karl Kraus – sein Bestes zu geben. Ich habe den Verdacht, dass es bei der Musik ähnlich sein könnte, obwohl ich nicht erklären kann, wie das genau funktionieren sollte. Dass im damaligen Ostblock reichlich Zensur war, kann kaum bestritten werden. Je nach Generalsekretär in Moskau muss zeitweise ein klaustrophobisches Gefühl des Eingesperrtseins geherrscht haben. Es mag sein, dass die Flucht in die Musik sich gewissermassen aufdrängte.

Wie auch immer: dort hatten Quartettspieler Zeit zu reifen. Kommerzieller Druck – Konzertagenten, die verdienen – big business, das den Umsatz will – all diese Urkräfte des Westens und die von ihnen hervorgerufenen Verwüstungen junger, frühzeitig verschlissener Spieler fehlten. Man hatte Zeit. Zeit, um Spieltechnik, Ideen und Menschen sich entwickeln zu lassen.

Kultur spielte und spielt in Russland eine hervorgehobene Rolle, die wir uns eher schlecht als recht vorstellen können. Obwohl einige Journalisten uns das sogar in ARD und ZDF nahezubringen versucht haben. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Empfangskommittee inklusive Bürgermeister sich auf dem Bahnsteig einfindet, um einen bekannten Dichter zu begrüssen, der seine Heimatstadt besucht.

Die Intensität des Kulturlebens, die Akzeptanz des Künstlerischen verbunden mit staatlicher Förderung – all das zeigte wohl Wirkung. Jedenfalls entstand eine erstaunliche Zahl guter Quartette. An ihrer Spitze das Borodin Quartett, eine Ausnahmeerscheinung selbst innerhalb eines hochgesteckten Rahmens.

Für Quartettliebhaber gibt es einen sehr einfachen Tip: völlig egal, ob da nun Borodin, Tanejew oder sonstwie Quartett draufsteht – einfach kaufen, wenn man über eine Melodia oder Eterna Aufnahme dieser Ära stolpert. Selbst wenn es eine original Hungaroton Scheibe sein sollte: kaufen! Man kann da kaum etwas falsch machen. Künstlerisch waren alle Einspielungen, die ich dieserart erstanden habe, eine wundervolle Bereicherung. So, als ob sie befreit von westlichen Zwängen aus einer anderen Welt stammten. Nur dass man das selbstverständlich auch heute noch nicht sagen darf, dass der ehemalige Ostblock ein Künstlerparadies gewesen ist. Gewesen sein könnte, wenn man die musikalischen Ergebnisse zum Maßstab nimmt.

Östlich der Elbe beginnt eben nicht die asiatische Steppe, wie Konrad Adenauer einmal meinte, sondern dort blüht – oftmals im Verborgenen – eine staunenswerte Kultur. Sichtbar für denjenigen, der hinschauen mag.

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