ABBA – Dancing Queen (August 1976)

ABBA - Dancing QueenIm Sommer des Jahres 1976 war der Dancing Queen einfach nirgends zu entkommen. Abend für Abend saß ich frustriert – weil nach zwei Jahren frisch verlassen, ohne aus der Ferne etwas dagegen unternehmen zu können – unter lauter anderen W15ern* in der Kasernenkneipe beim stark verbilligten Bier in der Nähe der Musikbox. Und alle wollten immer nur Dancing Queen hören. Man wusste nach einer Weile nicht mehr, wovon man besoffen wurde – vom Bier oder von diesem verdammten Ohrwurm. Meine Dancing Queen tanzte jetzt wohl mit einem Anderen … wozu also am Wochenende nach Hause fahren …?

Wenn ich – so wie zufällig gestern am Autoradio – diesen Abba-Titel höre, beschwört das augenblicklich die Erinnerungen an die ungeliebte Bundeswehrzeit wieder herauf. Zum Abba-Fan wäre ich auch ohne diese Erfahrung nie geworden, aber gerade Dancing Queen ist ein gutes Beispiel für perfekt produzierte Pop-Musik, das muss ich zugeben.


* W15er = Wehrpflichtiger für 15 Monate

heavy rotation Vol. 17: Charlie Haden Family & Friends – Rambling Boy

Ein Freund versorgte mich netterweise mit einem Stapel von CDs des im Juli verstorbenen Jazz-Kontrabassisten Charlie Haden. Da ich zwar wusste, wer Haden war und was er darstellte, aber keine großen Repertoirekenntnisse seines Werkes hatte, kam mir das sehr recht. Unter diesen Alben fand ich eines, das mir derzeit das liebste ist:

Charlie Haden Family & Friends - Rambling BoyCharlie Haden Family & Friends – Rambling Boy (CD 2008)
Charlie Haden trat schon als knapp Zweijähriger zusammen mit seiner Familie als Haden Family Radio Show auf. Das Repertoire bestand zu großen Teilen aus Country- und Westernmusik, was Haden als Musiker nachhaltig beeinflusste. In seinen frühen Zwanzigern spielte Haden, der sich mittlerweile für den Kontrabass als sein Instrument entschieden hatte, mit führenden Jazzmusikern zusammen. Er gehörte zum Doppelquartett Ornette Colemans, das 1960 das wegweisende Album „Free Jazz – A Collective Improvisation“ aufnahm. Dies am Beginn einer langen Karriere, die ihn immer wieder mit bekanntesten Jazzgrößen wie Pat Metheny, Keith Jarrett, Jan Garbarek, Chet Baker, John Scofield und vielen anderen zusammenbrachte. Für Plattenliebhaber nicht unwichtig: Haden spielte etliche Alben für Manfred Eichers Label ECM ein.

Haden war ein politisch denkender Mensch, so engagierte er sich gemeinsam mit anderen Künstlern in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und gegen den Vietnam-Krieg.

Als habe er im Alter in Erinnerung an seine Anfänge in der Familienband einen Kreis schließen wollen, nahm Haden anlässlich seines 70sten Geburtstages zusammen mit seiner Frau Ruth Cameron, seinen Drillingstöchtern Petra, Rachel und Tanya und seinem Sohn Josh die hier zu besprechende Platte „Rambling Boy“ auf. Dazu lud er (musikalische) Freunde ein: Elvis Costello, Pat Metheny, Bruce Hornsby, Rosanne Cash und noch einige andere, die mir weniger bekannt sind.

Was diese muntere, vor Musikalität sprühende Truppe da eingespielt hat, zeugt von herrlich unbefangenem, frischem Umgang mit der amerikanischen Musiktradition. Traumhaft schön, wie hier traditionelle Countrymusic-Spielweisen und der von den Haden-Schwestern meisterlich beherrschte Americana-Harmoniegesang mit aus dem Jazz bekannten Harmonien zusammenkommen.

Dieses Album hat viele schöne Momente. Eins meiner Lieblingsstücke ist die von Ruth Cameron vorgetragene Ballade „Down By The Sally Gardens“, aus der sich im Mittelteil ein typischer Metheny-Lauf herausschält. Der Gesang ist hier einfach phantastisch, völlig entkernt und ohne Manierismen. Ich stelle mir dabei eine schöne, ungeschminkte Frau vor …

Wunderbar auch „You Win Again“ mit Elvis Costello. Den verbuche ich eigentlich immer schon in die Kategorie „begnadeter Nichtsänger“. Auch hier wird er mit seinem suchenden, leicht nölenden Gesang meiner Schubladisierung gerecht.

Das von Petra Haden mit klarer Stimme gesungene „The Fields Of Athenry“ beginnt als sparsam mit Akustikgitarre und Fiddle begleiteter Country-Song, um dann wie von ungefähr eine harmonische Brechung Richtung Jazz zu erfahren. Schon jetzt schimmert ein bisschen Metheny durch – auch in den Gesang mischen sich Jazz-Phrasierungen. Bass, später Schlagzeug und Klavier setzen ein, dann ein Banjo-Solo – jetzt hat die Musik aber endgültig die Grenze zum Jazz überschritten. Stimme und Instrumente werden lauter, der gesamte Sound verdichtet sich, jetzt noch ein eindeutig Pat Metheny zuzuordnendes Gitarrensolo und der Song mausert sich zur Hymne. Phantastisch!

Schlau: gleich im Anschluss wieder ein „typischer“ Countrysong mit Bass, Gitarre, Fiddle und knarzigem Gesang, diesmal eingesungen von Dan Tyminski, einem Bluegrass-Musiker aus dem Umfeld von Alison Krauss.

Die letzten beiden Tracks stellen dann den eigentlichen Höhepunkt des Albums dar. Zuerst hören wir den kleinen Charlie Haden in einer Originalaufnahme der Haden Family Radio Show, und in der letzten Aufnahme den 70jährigen Haden mit seinem einzigen Gesangspart „Oh Shenandoah“. Seine Stimme klingt dünn und zerbrechlich. In seiner Jugend erkrankte Haden an einer leichteren Form von Kinderlähmung, was zu lebenslangen Schäden an den Stimmbändern führte. Als letzten diesen Song zu hören, erzeugt in mir als Zuhörer dann doch sentimentale Gefühle. Für den in Shenandoah, Iowa geborenen Haden schließt sich hier ein (Lebens-)Kreis.

Dieses im Kreise von Familie und Freunden eingespielte Album darf nun, fast zwei Monate, nachdem Charlie Haden an den Spätfolgen seiner Polio-Erkrankung starb, als eine Art Vermächtnis angesehen werden.

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