Musik muss zu den Kulturgütern gezählt werden. Ist vielleicht sogar DAS Kulturgut. Alle menschlichen Kulturen frönen einer Form von Musik – zur Freude oder auch als Form des Gebets. Diese Ausformungen können allerdings sehr unterschiedlich ausfallen. Warum Musik diese Rolle spielt, ist eine Frage, der viele Forscher nachgehen.
Die streng darwinistisch orientierten Forscher haben eine Theorie, aber keine Antwort. Gemäß Darwin gehen sie von folgendem Punkt aus: „Wenn Musik keine Bedeutung und keinen Vorteil im Lauf der Evolution gehabt hätte, dann hätte sie sich nicht erhalten, hätte sie nicht überlebt“. Es wird sogar behauptet, dass Musik ein Auslesekriterium gewesen sei – dass also Menschen, die musizierten, von der Evolution bevorzugt worden sind. Warum? Das weiß keiner, darwinistisch muss man das auch nicht wissen. Der Musizierende ist bestangepasst und hat überlebt.
Nun, der bedeutende Wissenschaftstheoretiker Karl Popper hat am Darwinismus kritisiert, dass „der Überlebende ist der Bestangepasste“ letztlich hohl ist, denn „der Bestangepasste ist der Überlebende“ (ein anderes Kriterium für bestangepasst gibt es nicht). Und dass das Ganze daher ein Zirkelschluss ist.
Darwin selbst war sich nicht so sicher. Er hielt Musik für eine der rätselhaften Entwicklungen der Menschheit. Seine Nachfolger dachten „muss ja einen Sinn haben“. Und die Gegenspieler dachten das Gegenteil. Da wäre zum Beispiel William James, der als einer der Gründungsväter der Psychologie angesehen wird.
Er glaubte nicht, dass Musik ein Auslesekriterium ist, sondern dass Musik als Nebenprodukt anderer kognitiver Fähigkeiten entstand. Menschen lieben Musik, leben länger und gesünder, wenn sie Musik genießen. Da sind wir wieder bei Darwin (Musik lässt uns überleben) – oder ist sie einfach nur ein Nebenprodukt? Wirklich?
Es wird noch lustiger. Ich musste als Psychologiestudentin an Anthropologiekursen teilnehmen. Da geht es ums Selektionsverhalten von Männern und ihrer Suche nach Weibchen. Bei Anthropologie geht es immer um Männchen. Soll ich als feministisch eingestellter Mensch beleidigt sein? Weibchen können ja nur ab und zu produzieren. Männchen dauernd mit lauter Weibchen. Ehe ist also kontraproduktiv!
Männchen wollen ihre Gene verbreiten. Hauptsache, in der nächsten Generation gibt es ein Maximum an eigenen Genen. Liebe gibt es nicht. Tschuldigung. Ich muss mal lachen. Dann rufen Männchen (Musik!) damit sie Weibchen abkriegen. Noch besser – wenn ein Männchen ruft, sitzen andere kurz davor, damit die Weibchen, die das rufende (musizierende) Männchen suchen, auf dem Weg dahin an den anderen Männchen vorbeikommen müssen und diese sie dabei „abgrasen“ können.
Also – ist Musik, wie einige Wissenschaftler glauben, nur Selektions- und/oder Imponiergehabe? Das nächste Mal, wenn Sie Ihre Lieblingsmusik genießen, suchen Sie also ein neues Weibchen oder GENIESSEN SIE, ganz für sich? Diese Frage müssen Sie sich selbst beantworten…
Gelegentlich tut es gut, den Browsercache zu leeren, den Desktop des Rechners aufzuräumen, temporäre Daten zu löschen und überhaupt ein wenig Archivarbeit zu leisten. Den Schreibtisch in die Aktion einzubeziehen, kann bestimmt nix schaden. Das schreibt hier übrigens einer, dessen Arbeits- und Denkmöbel als Heimstatt kreativen Chaos´ zu bezeichnen eine schamlose Beschönigung wäre! Tatsächlich ahne ich, dass der Zustand meines Arbeitsplatzes einiges aussagt über mich als Nutzer und über den Grad an Unordnung auch in meinen Gedanken …
Das eben Erwähnte gilt natürlich ebenso für die Menge an musikalischen Eindrücken, die sich sukzessive im Kopf ansammelt. Beizeiten muss ich meine innere Festplatte aufräumen, wenn ich mal wieder an die Grenzen meiner musikalischen Aufnahmefähigkeit stoße. Geradezu versessen auf „Stille im Kopf“, höre ich dann tagelang kaum mehr Musik, lasse Radio, Anlage und Spotify ausgeschaltet und verschiebe nach Möglichkeit Einkäufe in Muzak-verseuchten Verbrauchermärkten auf später.
Insofern kam mir eine schon länger geplante Wanderwoche in der Sächsischen Schweiz mehr als recht! Sechs Tage waren wir unterwegs, insgesamt etwa 80 km legten wir an vier Wandertagen per pedes zurück. Obwohl wir eine neunköpfige Gruppe waren – elf, wenn man die Hunde mitzählt – war reichlich Zeit zum Schweigen, zum Nachdenken – kurzum: zum Runterkommen. Gerade in den Tagen zuvor hatte ich mich musikalisch überladen, in jeder freien Minute freute ich mich hörend über meinen neuen Plattendreher. Das geschah zwar auf sehr hohem klanglichen Niveau, aber das rettete mich gerade nicht davor, es mit dem Input quantitativ zu übertreiben.
Fastenbrechen
Nach dem viel zu schnell vergangenen Urlaub gilt es nun, auf behutsame Art und Weise wieder Musik „nachzufüllen“.
Auf ein Album habe ich mich besonders gefreut: Cæcilie Norby & Lars Danielsson – Just the Two of Us (LP, ACT 2015). Die dänische Vokalartistin und der schwedische Ausnahmebassist sind privat ein Paar, aber hier erstmals als Duo auf einem gemeinsamen Album zu hören.
Man muss sich schon etwas trauen, wenn man ein Album mit einer Cover-Version des Joni Mitchell-Titels Both Sides Now beginnt. Doch schon nach den ersten gezupften Basstönen und dem Einsetzen der die mittleren Lagen auslotenden Stimme der Sängerin weicht die Skepsis des Zuhörers.
Die versierte Jazz-Vokalistin Norby beherrscht den Blues ebenso wie den Scat-Gesang. Gleichermaßen vielseitig der Bassmann Danielsson: mühelos zwischen perkussivem Spiel, Akkord-Begleitung und solistischen Anteilen wechselnd liefert er jederzeit das Pendant zum vokalen Treiben seiner Duo-Partnerin. Hier beansprucht niemand die Anführerschaft, beide stellen sich in den Dienst der mehr als guten Sache. So wird diese Platte zum Dokument eines großen Einverständnisses der beiden Künstler, wohl auch und vor allem auf der menschlichen Ebene … Hochemotional!
Nach etwas mehr als 45 min. endet dieses vorzüglich gepresste Vinylalbum mit einer eindrucksvollen Version von Leonard Cohens Hallelujah.
Tschaikowski – Konzert für Violine und Orchester D-dur op.35 – David Oistrach, Violine – Dirigent: Kyrill Kondraschin – Staatliches Sinfonieorchester der UdSSR (LP 1959, MELODIA/eurodisc)
Mein neuer Plattendreher schließt mir nun auch das Tor zur Klassik weiter auf. Ich habe eine Vielzahl von Klassik-Vinylalben, die aber bisher eher Beifang waren auf meinen Streifzügen über die Flohmärkte und durch die sozialen Kaufhäuser der Region.
Neulich hörte ich zu technischen Vergleichszwecken (tube rolling) etliche Male hintereinander das Tschaikowski-Violinkonzert D-dur op.35. Solistin: Anne-Sophie Mutter unter Herbert von Karajan mit den Wiener Philharmonikern. Als ich mich da reingegrooved hatte, machte es ordentlich Spaß, der zum Aufnahmezeitpunkt 1988 noch jungen Frau beim unbekümmerten Bewältigen der vielen eingebauten Schwierigkeiten zuzuhören. Es hatte allerdings auch ein bisschen was von einer Reihung lauter einzelner kleiner Kunststückchen. Hier ein dreifacher Rittberger, gleich darauf doppelter Toeloop, wenig später ein soundsovielfacher Salcho – und das alles auf der Geige!
Ich weiß nicht, was mich dann ritt, dass ich noch mal zur Plattensammlung ging und nach anderen Aufnahmen des Tschaikowski-Konzerts sah. Jedenfalls hielt ich nach kurzer Suche die eingangs genannte Platte mit David Oistrach als Solist in der Hand. Kurzer prüfender Blick auf die Plattenoberfläche, sofortiger Gang zur Plattenwaschmaschine und drauf damit auf den Plattenteller. Was sich nun entfaltete, war freilich von ganz anderem Kaliber. Natürlich ist Oistrach ein brillianter Techniker, aber erst seine Einspielung erschließt mir auch die emotionale Tiefe des Konzerts. Ich bin nicht nur davon begeistert, sondern auch von der klanglichen Qualität dieser alten Vinylscheibe! Auf jeden Fall ein würdiger Kandidat, mich nach dem Urlaub wieder mit Musik „aufzuladen“!
Paolo Conte – Concerti (2LP 1985, Live). Diese Platte habe ich hier im Blog schon mal erwähnt. Mal abgesehen davon, dass ich von der Unmittelbarkeit dieser Live-Aufnahmen des italienischen Liedermachers und Chansonniers geradezu elektrisiert bin, nutze ich sie gern, um in meiner Anlagenkette verschiedene Röhrenfabrikate vergleichend gegeneinander antreten zu lassen. Überdies ist das eine Einspielung, die die Spannung von der ersten bis zur vierten Plattenseite hält.
Gestern hörte ich einige ausgewählte Stücke im Rahmen meiner Aktion „vorsichtig wieder an gute Musik gewöhnen“!
Und wenn’s richtig fetzen soll, ohne dass es peinlich wird, fällt meine Wahl gern mal auf eine Platte von Wolf Maahn. Ich finde, dass Maahn einer derjenigen ist, auf die der Begriff „unterschätzt“ unbedingt zutrifft. Er ist nicht nur jemand, der die Musik noch von Hand macht, sondern auch ein Musikant im besten Sinne, den ich auch wegen seiner Texte bewundere. Mein Lieblingssong von ihm findet sich auf dem Album „Kleine Helden“ (LP 1986) und heißt Ich wart auf Dich.
Auf solche Ideen muss man erst mal kommen:
Ich bin müde –
und ich wünsch mir jetzt Dein Kleid voller Leben
So möcht ich Dich eine Zigarette rauchen sehn
Um dann müde in Dich zu kriechen …
Wolf Maahn – Ich wart auf Dich
Diesmal greife ich aber nicht zu „Kleine Helden“, sondern zu Wolf Maahn – Was? (LP 1989). Ich zapple noch ein bisschen durchs Wohnzimmer, zu Stunde um Stunde, und schalte dann die Anlage aus. Für diesmal ist es genug, mein innerer Konzertsaal ist wieder bestückt. Neue musikalische Abenteuer können kommen – ich bin vorbereitet!
Wir sind im Alltag darauf fokussiert, was uns als Gesundem (oder zumindest halbwegs Normalem) Musik bedeutet. Aber ist das alles oder gibt es kranke Menschen von denen wir lernen können?
Nehmen wir eine der gruseligsten Krankheiten die wir uns vorstellen können: Demenz. Auch als „menschliche Katastrophe“ tituliert. Wem von uns graut es nicht davor, nicht mehr zu wissen, wer wir sind, unsere Liebsten nicht mehr zu kennen, die Erinnerungen, die wir in uns tragen (schon Heinrich Spoerl sagte, diese seien das wirklich „Wahre“), nicht mehr zu kennen und den Bezug zu Raum und Zeit zu verlieren? Oder dies bei einem lieben Menschen mitansehen zu müssen?
Schon mancher hat sich bei dem Gedanken ertappt, dass der Tod besser sei als so ein Schicksal. Über das Wesen des Todes kann ich nichts sagen – ich bin zwar mal für tot erklärt worden, aber das macht mich nicht zu einer Koryphäe. Aber genau wie viele ein Nahtoderlebnis als Licht am Ende des Tunnels beschreiben, gibt es auch Lichtblicke im Tunnel der dunklen Demenz. Es gibt ein Medium, das zu Demenzkranken besser durchdringt, als alle anderen ausprobierten Stimuli: die Musik. Musik ermöglicht überraschende, kreative und humorvolle Aspekte der Arbeit mit Betroffenen, denen man sonst in einer Interaktion hilflos gegenüber steht.
Eine Therapeutin erlebt staunend, wie ein Demenzkranker (früher als Pianist ausgebildet) immer noch das C-Dur-Präludium von Bach spielen kann. Ihn mit der Flöte begleitend erlebt sie „es neu, intensiver“, entdeckt sie „die Genialität des Stückes mehr und mehr“, obwohl sie es vorab für jemanden mit gut gebildeten Ohren für eindeutig kitschig und „abgegriffen“ hielt. Sie schließt mit „Bach hat es geschafft, aus einem einzigen Motiv ein kleines musikalisches Weltall zu schaffen“. Qualitätsvolle Interaktion mit einem Demenzkranken, der „nur“ noch das kann, aber das dafür so gut, dass er Gesunden zum Lehrmeister wird.
Musik weckt längst vergessene Erinnerungen. Musiktherapeuten wecken Erinnerungen an Freuden, Stärken, schätzen den Menschen und teilen durch die Musik Kümmernisse und Enttäuschungen.
Warum Musik? Traditionell glaubte man, dass Gehirn sei irgendwann „ausgereift“ und sein Veränderungspotential gehe (schleichend) verloren. Heute weiß man, dass das falsch ist. Bei älteren Menschen lässt diese Fähigkeit nach, aber Training kann immer noch bedeutende Veränderungen bewirken. Musik stellt als Therapie bei Umstrukturierungsprozessen eine entscheidende Rolle dar. Bekannte Neurowissenschaftler nennen Musik sogar „den stärksten Reiz für Umstrukturierung des Gehirns, den wir kennen“. Musik regt wie kein anderer Reiz gleichzeitig Denken, Fühlen und Handeln an und stimuliert alle die dafür verantwortlichen Gehirnregionen zeitgleich.
Wir können alle noch viel lernen – entspannt beim Genuss von Musik!
Claudia S.
Details zur Musiktherapie
Dorothea Muthesius, Jan Sonntag, Britta Warme & Martina Falk:
Musik – Demenz – Begegnung
Mabuse-Verlag – zur Verlagsseite
Anfang Juni diesen Jahres schrieb er mir in einer Email:
Ich mache immer noch Amateurfunk, fast nur noch CW und DX. Trotz meiner 88 Jahre geht Tempo 120 noch fb, CW hält den Kopf flexibel, hi …
Am 4.Juli starb 88jährig mein Onkel Wilhelm Josef Münch – „Wim“ – so nannten ihn seine Funkamateur-Freunde. Nach dem Krieg gehörte er zu den ersten Funkbegeisterten, die zunächst „im rechtsfreien Raum“, ab März 1949 nach Verabschiedung des Amateurfunkgesetzes durch den Wirtschaftsrat der Bizone legal mit selbstgebauten Geräten in den Äther gingen. „Delta Lima Three X-ray Hotel – DL3XH“ – dieses Rufzeichen hat seit Jahrzehnten einen guten Klang unter Funkamateuren rund um den Erdball. Nun bleibt Wims Morsetaste für immer stumm – „silent key“ nennen das die Funker.
Wim war immer mein leuchtendes Vorbild. Solange ich denken kann, zog es mich in seine Funkbude. Die Atmosphäre, die entsteht, wenn sich aus dem Empfängerrauschen zunächst kaum verständliche Wortfetzen lösen, fasziniert mich noch heute, nachdem ich selbst die Funkerei längst aufgegeben habe. Der Wunsch, mit einem von Grund auf selbstgebauten Gerät mit Menschen auf der ganzen Welt kommunizieren zu können, spornte mich vor vielen Jahren an, Wim nachzueifern und mir das nötige Wissen dazu anzueignen.
Mein Onkel war ein begnadeter Bastler, ein großartiger Konstrukteur und dabei ein verschmitzter Improvisator. Es gab kaum etwas, was er nicht seinem Hobby dienstbar machen konnte. Er sammelte jedes Stückchen Blech – ob es Kellerfenstergitter waren oder Kakaodosen aus Weißblech -, aus Tubenverschlüssen wurden Drehknöpfe. Seine selbstgekanteten Blechpatchwork-Gehäuse bekamen dadurch einen ganz eigenen, unverwechselbaren look. Grauer Hammerschlag-Lack als Finish – das war Wims Markenzeichen. Für ihn stand dabei immer die tadellose Funktion seiner Geräte im Vordergrund.
Demnächst wird Wims Funkbude aufgelöst, die Gerätschaften werden weggegeben, Erinnerungsstücke gesichert. Für mich ein Grund, noch mal hinzufahren und ein paar Fotos zu machen, solange noch alles so ist, wie Wim es verlassen hat.
Gestern war ich dort. Wie immer sah ich noch nicht das Haus, da konnte ich schon den Antennenmasten ausmachen, der demnächst abgebaut wird.
Mein Cousin, der sich um den Nachlass kümmert, empfing mich. Nach Kaffee und Kuchen mit der Tante ging’s zur Funkbude. Alles ist so vertraut seit vielen Jahren, aber durch Wims Abwesenheit doch wieder ganz anders.
Ich schaltete die Funkgeräte ein. Sie zeigten die zuletzt benutzten Frequenzen an.
Den Sprechfunk hatte Wim schon längst aufgegeben. Allerdings war er bis zuletzt ein flotter Telegrafist. Seine automatischen Morsetasten baute er selbst.
Einige Impressionen:
Bei meinem Besuch wurden viele Erinnerungen wach an einen besonderen Menschen, den ich sehr geschätzt habe.
Oliver Sacks (1933 – 2015) war ein Neurologe, der die Öffentlichkeit wie auch eine bestimmte Fachwelt so geprägt hat wie kaum einer. Berühmt wurde er durch seine Bücher über neurologische Patienten, so z.B. „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, die sehr einfühlend und auch sehr selbstironisch geschrieben wurden, ohne jemals die Menschlichkeit aus dem Blick zu verlieren – was ihn schon von vielen Kollegen in seinem Berufszweig unterscheiden dürfte 😉
Als er unheilbar an Krebs erkrankte, schrieb er einen zu Tränen rührenden öffentlichen Abschiedsbrief, dessen Weisheit ehrfürchtig macht.
Was das alles mit HiFi zu tun hat? In einem seiner letzten Bücher beschäftigte sich Sacks mit Musikophilie. Er zitierte zunächst die Verwunderung der „Overlords“, hochkognitiver Aliens in Arthur C. Clarkes Novelle „Childhood’s End“:
„Wie merkwürdig doch der Anblick einer ganzen Spezies ist – Milliarden von Menschen, die mit bedeutungslosen Tonmustern spielen und ihnen lauschen, die einen großen Teil ihrer Zeit mit etwas beschäftigt sind, was sie Musik nennen und darin völlig versinken.“
Wem von uns Hifi-Aficionados ist das fremd? Das Vertiefen in etwas, das keinen rationalen Zugang bietet – außer der Analyse, wie gut ein Ton auf der einen Anlage klingt und auf der anderen eben nicht. Das ist faszinierend, obwohl gute Anlagen sehr schnell entscheiden, wer „der Bessere“ ist. Aber macht das den einzigen Reiz aus?
Wohl eher nicht. Kann man jemandem, der nicht an Musik interessiert ist, erklären, was einen an der Musik interessiert? Auch kaum vorstellbar. Oliver Sacks liefert uns die neurowissenschaftliche Seite dazu. Unser Gehirn leistet auch da seinen Beitrag. Können Sie sich vorstellen, dass Sie einen Unfall haben und danach ist Ihre Beziehung zu Musik eine andere? Nicht vorstellbar? Doch möglich ist es.
Hören Sie Oliver Sacks und einem seiner Patienten zu, einem toughen Ex-Football-Spieler, inzwischen anerkannter orthopädischer Chirurg. Er macht einen Anruf von einer Telefonzelle – als genau daneben ein Blitz einschlägt. Nahtod-Erlebnis, Wiederbelebungsmaßnahmen, ärztliche Untersuchungen … er kommt knapp davon. Und glaubt, so weiterleben zu können wie bisher (ich war selber mal für tot erklärt – ich kenne das Gefühl, das zu wollen). Aber er merkt, es hat sich etwas verändert. Er bekommt den unwiderstehlichen Drang, Musik zu hören. Anstelle von Rock-Musik – vorher war er ein Musik-Muffel, aber Rock war das einzige, was er akzeptieren konnte – giert es ihn auf einmal nach Klassik. Genauer gesagt nach Vladimir Ashkenazys Aufnahmen von Chopin. Er kauft eine Platte nach der anderen. Bis das nicht mehr ausreicht. Er bringt sich bei, selbst zu spielen.
In Träumen beginnen ihm Melodien zu begegnen, die er niederschreiben muss. Er beschreibt dies nicht als Halluzinationen, so fühlt es sich nicht an, sondern als Inspirationen. Drei Monate nach seinem Nahtod-Erlebnis ist er besessen von seiner Musik. Er kommt zu dem Schluss: „Der einzige Grund, warum ich überleben durfte, war Musik.“
Jahre später ist er weiterhin erfolgreicher Chirurg, aber Herz und Seele konzentrieren sich weiterhin in jedem freien Moment auf Musik. Was will uns dies sagen? Nicht jeder von uns hatte ein Nahtod-Erlebnis. Aber dieses Beispiel zeigt uns, dass Musik zu den Bedürfnissen unseres Gehirns gehört – oder zumindest zu einem werden kann. Über einen längeren Zeitraum schleichend, oder auch schicksalsbedingt auf einmal. Und wer einfach Feuer gefangen und den Blitzeinschlag erlebt hat, wer wirklich Musik erlebt hat, den lässt sein Gehirn das niemals vergessen. Für das Gehirn ist es neurologisch egal, ob der Impuls von einem Blitzschlag oder einer Hifi-Anlage kommt! Beides löst elektrisch getriggerte, neuronale Aktivität aus. Und beides kann zu einem Bedürfnis führen, das anscheinend ein Grundbedürfnis der Menschheit ist – Musik!
Claudia S.
Literatur: Oliver Sacks: „Der einarmige Pianist: Über Musik und das Gehirn“. Rowohlt.