Diesmal politisch völlig unkorrekt: über künstlerische Freiräume im ehemaligen Ostblock
Ach, ich freu mich: kaum ist das neue Blog eröffnet, meldet sich auch Segschneider zurück! Hier seine aktuellen Betrachtungen über Streicher-Quartette im „real existierenden Sozialismus“:
Zwar ist es schon länger her, dass wir – der siegreiche Westen – den sogenannten Sozialismus bezwungen haben. Weil wir so ungeheuer erfolgreich sind, wirtschaftlich vor allem. Der westliche Kapitalismus ringt alles nieder; in der jüngsten, aber nicht letzten Krise hat er beinahe sich selbst niedergerungen. Ob er sich selbst überwinden kann, ist noch offen.
Aber das darf man derzeit wohl immer noch nicht, den ehemaligen Ostblock als ein Paradies schildern. Er war eines, und er ist immer noch ein paradiesischer Ort für Ballettliebhaber, Musikliebhaber im Allgemeinen und Quartettafficionados im Besonderen. Es wird wohl etwas mit den Arbeitsbedingungen zu tun haben, die dort herrschten. Am Moskauer Zentralismus – das dortige Konservatorium hatte unbestreitbar die Führungsrolle – hat es eher nicht gelegen. Denn die Franzosen, ein nicht minder zentralistisches Völkchen, haben diese Fülle atemberaubend guter Quartettspieler bisher nicht hervorgebracht.
Bleiben die übrigen Arbeitsbedingungen. Ich halte es für zutreffend, dass Quartettspiel nicht nur eine Lebensaufgabe ist, sondern dass ein Zusammenspiel umso besser werden kann, je länger und bewusster die vier Musikanten miteinander umgehen. Quartett erwächst aus gemeinsamem Leben. Es nützt gar nichts, vier Superstars aus allen Kontinenten einzufliegen und zu sagen: nun spielt mal schön. Das ist eher kontraproduktiv und wird sehr leicht die Karikatur eines Quartetts.
Von Karl Kraus konnten wir erfahren, dass der gute Schreiber des Zensors bedarf: erst der Zensor würde ihn zwingen – so argumentiert Karl Kraus – sein Bestes zu geben. Ich habe den Verdacht, dass es bei der Musik ähnlich sein könnte, obwohl ich nicht erklären kann, wie das genau funktionieren sollte. Dass im damaligen Ostblock reichlich Zensur war, kann kaum bestritten werden. Je nach Generalsekretär in Moskau muss zeitweise ein klaustrophobisches Gefühl des Eingesperrtseins geherrscht haben. Es mag sein, dass die Flucht in die Musik sich gewissermassen aufdrängte.
Wie auch immer: dort hatten Quartettspieler Zeit zu reifen. Kommerzieller Druck – Konzertagenten, die verdienen – big business, das den Umsatz will – all diese Urkräfte des Westens und die von ihnen hervorgerufenen Verwüstungen junger, frühzeitig verschlissener Spieler fehlten. Man hatte Zeit. Zeit, um Spieltechnik, Ideen und Menschen sich entwickeln zu lassen.
Kultur spielte und spielt in Russland eine hervorgehobene Rolle, die wir uns eher schlecht als recht vorstellen können. Obwohl einige Journalisten uns das sogar in ARD und ZDF nahezubringen versucht haben. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Empfangskommittee inklusive Bürgermeister sich auf dem Bahnsteig einfindet, um einen bekannten Dichter zu begrüssen, der seine Heimatstadt besucht.
Die Intensität des Kulturlebens, die Akzeptanz des Künstlerischen verbunden mit staatlicher Förderung – all das zeigte wohl Wirkung. Jedenfalls entstand eine erstaunliche Zahl guter Quartette. An ihrer Spitze das Borodin Quartett, eine Ausnahmeerscheinung selbst innerhalb eines hochgesteckten Rahmens.
Für Quartettliebhaber gibt es einen sehr einfachen Tip: völlig egal, ob da nun Borodin, Tanejew oder sonstwie Quartett draufsteht – einfach kaufen, wenn man über eine Melodia oder Eterna Aufnahme dieser Ära stolpert. Selbst wenn es eine original Hungaroton Scheibe sein sollte: kaufen! Man kann da kaum etwas falsch machen. Künstlerisch waren alle Einspielungen, die ich dieserart erstanden habe, eine wundervolle Bereicherung. So, als ob sie befreit von westlichen Zwängen aus einer anderen Welt stammten. Nur dass man das selbstverständlich auch heute noch nicht sagen darf, dass der ehemalige Ostblock ein Künstlerparadies gewesen ist. Gewesen sein könnte, wenn man die musikalischen Ergebnisse zum Maßstab nimmt.
Östlich der Elbe beginnt eben nicht die asiatische Steppe, wie Konrad Adenauer einmal meinte, sondern dort blüht – oftmals im Verborgenen – eine staunenswerte Kultur. Sichtbar für denjenigen, der hinschauen mag.