Wir sind im Alltag darauf fokussiert, was uns als Gesundem (oder zumindest halbwegs Normalem) Musik bedeutet. Aber ist das alles oder gibt es kranke Menschen von denen wir lernen können?
Nehmen wir eine der gruseligsten Krankheiten die wir uns vorstellen können: Demenz. Auch als „menschliche Katastrophe“ tituliert. Wem von uns graut es nicht davor, nicht mehr zu wissen, wer wir sind, unsere Liebsten nicht mehr zu kennen, die Erinnerungen, die wir in uns tragen (schon Heinrich Spoerl sagte, diese seien das wirklich „Wahre“), nicht mehr zu kennen und den Bezug zu Raum und Zeit zu verlieren? Oder dies bei einem lieben Menschen mitansehen zu müssen?
Schon mancher hat sich bei dem Gedanken ertappt, dass der Tod besser sei als so ein Schicksal. Über das Wesen des Todes kann ich nichts sagen – ich bin zwar mal für tot erklärt worden, aber das macht mich nicht zu einer Koryphäe. Aber genau wie viele ein Nahtoderlebnis als Licht am Ende des Tunnels beschreiben, gibt es auch Lichtblicke im Tunnel der dunklen Demenz. Es gibt ein Medium, das zu Demenzkranken besser durchdringt, als alle anderen ausprobierten Stimuli: die Musik. Musik ermöglicht überraschende, kreative und humorvolle Aspekte der Arbeit mit Betroffenen, denen man sonst in einer Interaktion hilflos gegenüber steht.
Eine Therapeutin erlebt staunend, wie ein Demenzkranker (früher als Pianist ausgebildet) immer noch das C-Dur-Präludium von Bach spielen kann. Ihn mit der Flöte begleitend erlebt sie „es neu, intensiver“, entdeckt sie „die Genialität des Stückes mehr und mehr“, obwohl sie es vorab für jemanden mit gut gebildeten Ohren für eindeutig kitschig und „abgegriffen“ hielt. Sie schließt mit „Bach hat es geschafft, aus einem einzigen Motiv ein kleines musikalisches Weltall zu schaffen“. Qualitätsvolle Interaktion mit einem Demenzkranken, der „nur“ noch das kann, aber das dafür so gut, dass er Gesunden zum Lehrmeister wird.
Musik weckt längst vergessene Erinnerungen. Musiktherapeuten wecken Erinnerungen an Freuden, Stärken, schätzen den Menschen und teilen durch die Musik Kümmernisse und Enttäuschungen.
Warum Musik? Traditionell glaubte man, dass Gehirn sei irgendwann „ausgereift“ und sein Veränderungspotential gehe (schleichend) verloren. Heute weiß man, dass das falsch ist. Bei älteren Menschen lässt diese Fähigkeit nach, aber Training kann immer noch bedeutende Veränderungen bewirken. Musik stellt als Therapie bei Umstrukturierungsprozessen eine entscheidende Rolle dar. Bekannte Neurowissenschaftler nennen Musik sogar „den stärksten Reiz für Umstrukturierung des Gehirns, den wir kennen“. Musik regt wie kein anderer Reiz gleichzeitig Denken, Fühlen und Handeln an und stimuliert alle die dafür verantwortlichen Gehirnregionen zeitgleich.
Wir können alle noch viel lernen – entspannt beim Genuss von Musik!
Claudia S.
Details zur Musiktherapie
Dorothea Muthesius, Jan Sonntag, Britta Warme & Martina Falk:
Musik – Demenz – Begegnung
Mabuse-Verlag – zur Verlagsseite