Miller vs. Maxwell

John Milton Miller, 1882-1962
John Milton Miller, 1882-1962 (Bild via Wikimedia Commons – gemeinfrei)

James Clerk Maxwell, 1831 - 1879
James Clerk Maxwell, 1831-1879 (Bild via Wikimedia Commons – gemeinfrei)

Segschneider über die Miller-Kapazität

Fangen wir das Ganze langsam und gründlich an. Wenn wir einen erstklassigen Profifahrer mit deinem oder meinem Auto um den Nürburgring bolzen lassen – je schneller je besser -, dann ist garantiert, dass die Kiste an mehreren Stellen in die Luft geht. Das können wir zweifelsfrei messen: das Auto bewegt sich wirklich durch die Luft. Und nicht nur für Sekundenbruchteile, nein, deutlich länger. Nun gibt es für alles eine Theorie, sagt Mäxchen Schlaumeier, so auch für diesen Fall. Was sich durch die Luft bewegt, das fliegt.

Ob nun wie ein Vogel, der nach der fachlichen Meinung der Luftfahrtingenieure tatsächlich fliegt, oder wie eine Hummel, die nach Meinung derselben Fachleute nur kontrolliert abstürzt – für beides gibt es eine, selbstverständlich unterschiedliche Theorie, und damit müssen wir dem Auto nun zu Leibe rücken. Tut aber keiner.

Oder, halt, tut doch einer! Denn manchmal – Beispiel: der Rennwagen fliegt in die Luft und überschlägt sich rückwärts – da tun sie’s doch! Solche Fälle hat es gegeben, die Enthusiasten erinnern sich, und ja, da haben Autoingenieure dann doch an ihren Fahrzeugen Eigenschaften eines Flugzeugs festgestellt.

Und seither bleiben Rennwagen öfter mal auf der Erde. Wir sehen daraus zweierlei. Erstens hab ich recht (das ist mir sehr wichtig, ich bin gelernter Rechthaber!), und zweitens ist das Auto tatsächlich ein Flugzeug. Dummerweise glaubt das allgemeine Publikum das nicht, aber was soll’s, wir wissen es ja besser.

So, nun stürzen wir uns auf unser Lieblingsthema, die Elektronenröhre.

Sie ist ein Kondensator. Das sage nicht ich, das sagen alle. Denn wenn die Miller-Kapazität schon bis in die allgemeinen Simulationsprogramme für Röhrenschaltungen Eingang gefunden hat, dann ist diese Weisheit wohl bei allen angekommen. Was eine Kapazität ist, wissen wir seit Maxwell genau. Ein Kondensator ist ein Aufbau bestehend aus zwei sich gegenüberliegenden Platten mit einem Dielektrikum dazwischen. Ein Dielektrikum ist ein elektrisch nicht leitendes Material, und in einem nichtleitenden Material können sich keine Elektronen bewegen. In einem Kupferdraht zum Beispiel können sich Elektronen bewegen, und deshalb ist der Kupferdraht kein Dielektrikum. Das absolute Nichts, fachmännisch Vakuum genannt, kann keine Elektronen bewegen, weil keine da sind, und ist deshalb ein Dielektrikum.

Genau unser Fall, schreien alle, so ist das ja auch bei der Röhre!

Zwei sich gegenüberliegende Flächen, gebildet von Drahtgeflechten, und dazwischen Vakuum – alles passt, so isses. Und es wurde bereits gemessen! Wir nehmen die nicht eingeschaltete Röhre und, siehe da, wir messen eine Kapazität. So kam die sogenannte Miller-Kapazität in die Elektronenröhre. Und in die Köpfe.

Aber im wirklichen Leben gibt es dieses Gespenst gar nicht. Im wirklichen Leben ist die Elektronenröhre eingeschaltet, so wie das Auto in seinem wirklichen Leben mit einem laufenden Motor fährt, und wenn die Elektronenröhre eingeschaltet ist, tun sich wundersame Dinge.

Dann gibt es im Inneren jede Menge Elektronen, bis heute weiss niemand, wie viele es gerade sind, schon für diese einfache Frage gibt es keine Antwort mehr, und es fliesst ein kräftiger Elektronenstrom, der je nach dem, was die Röhre gerade an Signal verarbeitet, auch noch sehr unterschiedlich sein kann. Irgendwo zwischen null, dem Ruhestrom im Arbeitspunkt und einem Vielfachen davon – genauer wissen wir’s nicht. Mit anderen Worten: wenn die Röhre betrieben wird, gibt es kein Dielektrikum mehr in ihrem Inneren. Das ehemalige Vakuum ist nunmehr voller Elektronen, ein Teil davon kann ein Elektronenstrom sein – wie er in einem Kupferdraht fliesst – und alles das bedeutet: kein Dielektrikum. Und wo es kein Dielektrikum mehr gibt, da gibt es keinen Kondensator. Sagt Maxwell eineindeutig.

Leider sind Maxwells geniale Gleichungen ein wenig kompliziert, sie müssen es sein, weil sie Zustände beschreiben, die noch viel komplizierter sind. Diese komplizierten Zustände kann ich nicht einfach nach dem Superpositionsprinzip erklären. Ich kann nicht sagen:

Die Röhre ist im wirklichen Leben ein Kondensator plus Elektronenwolke plus Elektronenstrom – das wäre Superposition; ich würde vereinfacht gesprochen die unterschiedlichen Zustände übereinanderlegen wie Folien im Projektor. Das klappt bei Maxwell generell nicht. Und, wie bereits gesagt, die Zustandsbeschreibungen widersprechen sich darüberhinaus – das eine schließt das andere aus. Geht also gar nicht. Die Miller-Kapazität ist ein Gespenst. Sie bei kalter Röhre zu messen ist ungefähr so intelligent wie die Messung von Beschleunigung und Höchstgeschwindigkeit beim Auto, wenn dessen Räder stillstehen und die Lügenelektronik nicht mal mehr das Abgas kontrolliert.

Sobald eine Aussage fortwährend wiederholt wird, verfestigt sie sich in vielen Köpfen zu einer „Wahrheit“. Die ist nicht unbedingt richtig, aber sie existiert in den Köpfen trotz alledem. Und die Miller-Kapazität wurde und wird ständig wiederholt: in Lehrbüchern und in Simulationsprogrammen. Es gibt sie nicht und sie widerspricht der Maxwellschen Elektrotechnik. Genau deshalb, so fürchte ich, wird sie das Schicksal vieler Gespenster teilen. Die schottischen Schlossgespenster leben in den Köpfen der Menschen fröhlich weiter, da hilft keine wissenschaftliche Widerlegung. Das Ungeheuer von Loch Ness hat sich genausowenig verflüchtigt wie die Miller-Kapazität sich verflüchtigen wird. Und wenn die Simulationsprogramme erstmal das Überleben garantieren – oh je. Das ist schon kurz vor dem ewigen Leben.

Eine kleine Gehässigkeit zum Schluss. Es soll sogar Menschen geben – ich gehöre dazu – die glauben, dass in Lehrbüchern auch falsche Sachen stehen. Das ist schon fast so krank wie die schottischen Gespenster. Halten wir fest: Autos sind Flugzeuge. Und was Röhren sind, darauf gibt Maxwell keine allgemeine Antwort. Aber schau ins Simulationsprogramm: da steht es.

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