Nach langer Zeit mal wieder Böll gelesen

Heinrich Böll - Gesamtausgabe, Werke 3, Romane und Erzählungen 1954-1959Gestern Abend suchte ich noch etwas zum Lesen – zum Aufbleiben zu müde und zum Einschlafen zu munter brauche ich oft noch die sprichwörtlichen „drei Zeilen“, die mich dann endgültig in Morpheus´ Arme treiben. Auf dem Weg ins Bett vor den Büchern stehend fiel mein Blick auf die seit bestimmt 20 Jahren nicht mehr angerührte Heinrich Böll-Gesamtausgabe in zehn Bänden. Und sofort wusste ich auch, was ich noch lesen wollte: die satirische Kurzgeschichte „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen„. Veröffentlicht 1955 und verfilmt im Jahr 1963 mit Dieter Hildebrandt als Murke spielt diese Geschichte in einer deutschen Rundfunkanstalt. Dr. Murke, Mitarbeiter im Kulturressort, erhält vom Intendanten die Aufgabe, einen von der Kultur-Größe Bur-Malottke verfassten und eingesprochenen Beitrag zu bearbeiten. Bur-Malottke, bei Kriegsende eilig vom Nationalsozialisten zum Gottgläubigen konvertiert, distanziert sich nun wieder und verlangt, dass aus seinem Beitrag das Wort „Gott“ herausgeschnitten und durch die Wendung „jenes höhere Wesen, das wir verehren“ ersetzt wird. Der Intendant mag Bur-Malottke die Sache nicht abschlagen:

Nun ruft der Intendant Murke zu sich und drückt ihm diese undankbare Aufgabe aufs Auge:

Der Intendant mochte Murke nicht; er hatte ihn zwar sofort engagiert, als man es ihm vorschlug, er hatte ihn engagiert, so wie ein Zoodirektor, dessen Liebe eigentlich den Kaninchen und Rehen gehört, natürlich auch Raubtiere anschafft, weil eben in einen Zoo auch Raubtiere gehören – aber die Liebe des Intendanten gehörte eben doch den Kaninchen und Rehen, und Murke war für ihn eine intellektuelle Bestie.

Die „intellektuelle Bestie“ Murke rächt sich fürchterlich an Bur-Malottke. Jener erfährt im Studio, er habe wegen des Bedarfs verschiedener grammatikalischer Fälle das Folgende nachträglich einzusprechen:

„Wir haben“ – er lächelte liebenswürdig zu Bur-Malottke hin – „insgesamt nötig: zehn Nominative und fünf Akkusative, fünfzehnmal also: ‚jenes höhere Wesen, das wir verehren‘ – dann sieben Genitive, also ‚jenes höheren Wesens, das wir verehren‘ – fünf Dative: ‚jenem höheren Wesen, das wir verehren‘ – es bleibt noch ein Vokativ, die Stelle, wo Sie ‚o Gott‘ sagen. Ich erlaube mir, ihnen vorzuschlagen, dass wir es beim Vokativ belassen und Sie sprechen ‚O Du höheres Wesen, das wir verehren!“

So gerät der „große“ Bur-Malottke in eine recht erniedrigende Lage. Murke lässt ihn das Einsprechen ständig wiederholen und so in dieser eh schon peinlichen Situation für seine Arroganz und Scheinheiligkeit büßen.

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Murke selbst kompensiert die Frustration, der sich im Arbeitsalltag in der Rundfunkanstalt bei ihm aufstaut, durch das Anhören gesammelter und zusammengeklebter Tonbandschnipsel von Sprechpausen, dem „gesammelten Schweigen“.

Nach so viel Vergnügen beim Lesen dieser 24 Seiten umfassenden Kurzgeschichte habe ich mir fest vorgenommen, mal wieder häufiger den Böll zur Hand zu nehmen!

Vom „verliebten Außersichsein“

Manchmal spielt einem der Zufall Sachen in die Hand, die man sich selbst niemals hätte ausdenken können.

Heute führte mich mein Weg wie schon oft zum Haushaltsentrümpler meines Vertrauens. Ich durchsuchte die Schallplattenkisten nach Neuzugängen – diesmal erfolglos. Immerhin fand ich für einen Euro die CD „Buena Vista Social Club“, somit hatte sich mein Besuch schon gelohnt. Danach schlenderte ich durch die Bücherabteilung. Dort stieß ich auf einen gebundenen Jahrgang der mir bis dahin völlig unbekannten Monatsschrift „Film + Ton Magazin“ von 1968. Diese inzwischen wohl eingestellte Publikation richtete sich an engagierte Filmamateure. Sie behandelte filmische Aufnahmetechniken, aber auch die Vertonung sowie die dafür erforderlichen Gerätschaften. In jedem Heft gab es darüber hinaus Besprechungen von Platten-Neuerscheinungen.

Ich habe mich bemüht, im Internet Rechtsnachfolger der damaligen Herausgeber zu finden, allerdings bisher erfolglos. Sollte es einen Rechteinhaber geben, der etwas gegen das nachfolgende längere Zitat einzuwenden hat, möge er sich bitte melden, dann nehme ich den Beitrag wieder von der Seite. Es wäre allerdings schade :-(…

In der Februarausgabe erklärt der Artikel „Herz in der Optik – Der Film enthüllt Geheimnisse der Liebe“ auf den Seiten 22 und 23, wie denn wohl die Liebe im Film darzustellen sei. Eigentlich geht’s um gefilmten Geschlechtsverkehr, aber der Text laviert geschickt darum herum. Der Autor Konrad Karkosch schreibt:

„… Da die Liebesszenen zu den schönsten und wichtigsten Szenen der meisten Filme gehören, ist es interessant, die filmische, d.h. die mimische Darstellung des Außersichseins beim Erlebnis der Liebe mit einigen markanten Film-Fotos*** zu illustrieren. Dabei ist zu beachten, dass das Außersichsein in zwei typische Phasen zerfällt, von denen auch der Liebesausdruck beherrscht wird, nämlich in die Phase des „Ergriffenseins“ und des „verliebten Verströmens“ gliedert. Auf dem Höhepunkt des „verliebten Außersichseins“, der in einem Verhalten gipfelt und eine bestimmte Intensität und Dauer hat, geht die Phase des „verliebten Ergriffenseins“ in die des „verliebten Verströmens“ über, bei der sich der Mund wieder zu schließen, die Augenbrauen wieder zu senken, ja, alle bewegten Regionen des Gesichts wieder zu entspannen beginnen.

Diese beiden Phasen des „verliebten Außersichseins“ sowie dessen Höhepunkte gelangen in den filmischen Liebesszenen in den mannigfachsten Variationen zur mimischen und gestischen Darstellung. Alle Liebesszenen des Films leben von diesen Erscheinungsformen des Liebesausdrucks, der sich nicht nur in der Mimik, sondern auch im Händedruck, in der Umarmung, im Kuss usw. verwirklicht. Es braucht hierbei nicht weiter betont zu werden, dass nicht jeder Blick, nicht jeder Händedruck, nicht jeder Kuss das Gefühl der Liebe ausdrücken muss. Nur wenn die Voraussetzungen des „verliebten Ergriffenseins“ und des „verliebten Verströmens“, also des „verliebten Außersichseins“ erfüllt werden, ist das Gefühl der Liebe auch im Bereich des Films möglich.“

*** Film-Fotos weggelassen

Das Ding habe ich nach dem Abendessen meiner Liebsten und dem Erstgeborenen vorgelesen. Es war ein voller Erfolg…

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