Warum gibt es Musik?

Der Dichter und Sänger Heinrich von Meißen, gen. Frauenlob, aus dem Codex Manesse (via wikimedia commons – public domain)

Musik muss zu den Kulturgütern gezählt werden. Ist vielleicht sogar DAS Kulturgut. Alle menschlichen Kulturen frönen einer Form von Musik – zur Freude oder auch als Form des Gebets. Diese Ausformungen können allerdings sehr unterschiedlich ausfallen. Warum Musik diese Rolle spielt, ist eine Frage, der viele Forscher nachgehen.

Die streng darwinistisch orientierten Forscher haben eine Theorie, aber keine Antwort. Gemäß Darwin gehen sie von folgendem Punkt aus: „Wenn Musik keine Bedeutung und keinen Vorteil im Lauf der Evolution gehabt hätte, dann hätte sie sich nicht erhalten, hätte sie nicht überlebt“. Es wird sogar behauptet, dass Musik ein Auslesekriterium gewesen sei – dass also Menschen, die musizierten, von der Evolution bevorzugt worden sind. Warum? Das weiß keiner, darwinistisch muss man das auch nicht wissen. Der Musizierende ist bestangepasst und hat überlebt.

Nun, der bedeutende Wissenschaftstheoretiker Karl Popper hat am Darwinismus kritisiert, dass „der Überlebende ist der Bestangepasste“ letztlich hohl ist, denn „der Bestangepasste ist der Überlebende“ (ein anderes Kriterium für bestangepasst gibt es nicht). Und dass das Ganze daher ein Zirkelschluss ist.

Charles Darwin
Charles Darwin, 1809-1882 (Bild: public domain – via wikimedia commons)

William James
William James, 1842-1910 (Bild: public domain – via wikimedia commons)

Darwin selbst war sich nicht so sicher. Er hielt Musik für eine der rätselhaften Entwicklungen der Menschheit. Seine Nachfolger dachten „muss ja einen Sinn haben“. Und die Gegenspieler dachten das Gegenteil. Da wäre zum Beispiel William James, der als einer der Gründungsväter der Psychologie angesehen wird.

Er glaubte nicht, dass Musik ein Auslesekriterium ist, sondern dass Musik als Nebenprodukt anderer kognitiver Fähigkeiten entstand. Menschen lieben Musik, leben länger und gesünder, wenn sie Musik genießen. Da sind wir wieder bei Darwin (Musik lässt uns überleben) – oder ist sie einfach nur ein Nebenprodukt? Wirklich?

Es wird noch lustiger. Ich musste als Psychologiestudentin an Anthropologiekursen teilnehmen. Da geht es ums Selektionsverhalten von Männern und ihrer Suche nach Weibchen. Bei Anthropologie geht es immer um Männchen. Soll ich als feministisch eingestellter Mensch beleidigt sein? Weibchen können ja nur ab und zu produzieren. Männchen dauernd mit lauter Weibchen. Ehe ist also kontraproduktiv!

Männchen wollen ihre Gene verbreiten. Hauptsache, in der nächsten Generation gibt es ein Maximum an eigenen Genen. Liebe gibt es nicht. Tschuldigung. Ich muss mal lachen. Dann rufen Männchen (Musik!) damit sie Weibchen abkriegen. Noch besser – wenn ein Männchen ruft, sitzen andere kurz davor, damit die Weibchen, die das rufende (musizierende) Männchen suchen, auf dem Weg dahin an den anderen Männchen vorbeikommen müssen und diese sie dabei „abgrasen“ können.

Also – ist Musik, wie einige Wissenschaftler glauben, nur Selektions- und/oder Imponiergehabe? Das nächste Mal, wenn Sie Ihre Lieblingsmusik genießen, suchen Sie also ein neues Weibchen oder GENIESSEN SIE, ganz für sich? Diese Frage müssen Sie sich selbst beantworten…

Claudia S.

Literatur:
Aniruddh D. Patel (2008). Music, language, and the brain. New York: Oxford University Press.

Musik als Heiler

Musik, eingesetzt in der Therapie - Foto & © by Michael Münch
Musik, eingesetzt in der Therapie – Foto & © by Michael Münch

Wir sind im Alltag darauf fokussiert, was uns als Gesundem (oder zumindest halbwegs Normalem) Musik bedeutet. Aber ist das alles oder gibt es kranke Menschen von denen wir lernen können?

Nehmen wir eine der gruseligsten Krankheiten die wir uns vorstellen können: Demenz. Auch als „menschliche Katastrophe“ tituliert. Wem von uns graut es nicht davor, nicht mehr zu wissen, wer wir sind, unsere Liebsten nicht mehr zu kennen, die Erinnerungen, die wir in uns tragen (schon Heinrich Spoerl sagte, diese seien das wirklich „Wahre“), nicht mehr zu kennen und den Bezug zu Raum und Zeit zu verlieren? Oder dies bei einem lieben Menschen mitansehen zu müssen?

Schon mancher hat sich bei dem Gedanken ertappt, dass der Tod besser sei als so ein Schicksal. Über das Wesen des Todes kann ich nichts sagen – ich bin zwar mal für tot erklärt worden, aber das macht mich nicht zu einer Koryphäe. Aber genau wie viele ein Nahtoderlebnis als Licht am Ende des Tunnels beschreiben, gibt es auch Lichtblicke im Tunnel der dunklen Demenz. Es gibt ein Medium, das zu Demenzkranken besser durchdringt, als alle anderen ausprobierten Stimuli: die Musik. Musik ermöglicht überraschende, kreative und humorvolle Aspekte der Arbeit mit Betroffenen, denen man sonst in einer Interaktion hilflos gegenüber steht.

Eine Therapeutin erlebt staunend, wie ein Demenzkranker (früher als Pianist ausgebildet) immer noch das C-Dur-Präludium von Bach spielen kann. Ihn mit der Flöte begleitend erlebt sie „es neu, intensiver“, entdeckt sie „die Genialität des Stückes mehr und mehr“, obwohl sie es vorab für jemanden mit gut gebildeten Ohren für eindeutig kitschig und „abgegriffen“ hielt. Sie schließt mit „Bach hat es geschafft, aus einem einzigen Motiv ein kleines musikalisches Weltall zu schaffen“. Qualitätsvolle Interaktion mit einem Demenzkranken, der „nur“ noch das kann, aber das dafür so gut, dass er Gesunden zum Lehrmeister wird.

Musik weckt längst vergessene Erinnerungen. Musiktherapeuten wecken Erinnerungen an Freuden, Stärken, schätzen den Menschen und teilen durch die Musik Kümmernisse und Enttäuschungen.

Warum Musik? Traditionell glaubte man, dass Gehirn sei irgendwann „ausgereift“ und sein Veränderungspotential gehe (schleichend) verloren. Heute weiß man, dass das falsch ist. Bei älteren Menschen lässt diese Fähigkeit nach, aber Training kann immer noch bedeutende Veränderungen bewirken. Musik stellt als Therapie bei Umstrukturierungsprozessen eine entscheidende Rolle dar. Bekannte Neurowissenschaftler nennen Musik sogar „den stärksten Reiz für Umstrukturierung des Gehirns, den wir kennen“. Musik regt wie kein anderer Reiz gleichzeitig Denken, Fühlen und Handeln an und stimuliert alle die dafür verantwortlichen Gehirnregionen zeitgleich.

Wir können alle noch viel lernen – entspannt beim Genuss von Musik!

Claudia S.


Details zur Musiktherapie

Dorothea Muthesius, Jan Sonntag, Britta Warme & Martina Falk:
Musik – Demenz – Begegnung
Mabuse-Verlag – zur Verlagsseite

Musikophilie – Gabe oder Krankheit?

Oliver Sacks, © Luigi Novi / Wikimedia Commons
Oliver Sacks, © Luigi Novi / Wikimedia Commons

Oliver Sacks (1933 – 2015) war ein Neurologe, der die Öffentlichkeit wie auch eine bestimmte Fachwelt so geprägt hat wie kaum einer. Berühmt wurde er durch seine Bücher über neurologische Patienten, so z.B. „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, die sehr einfühlend und auch sehr selbstironisch geschrieben wurden, ohne jemals die Menschlichkeit aus dem Blick zu verlieren  – was ihn schon von vielen Kollegen in seinem Berufszweig unterscheiden dürfte 😉

Als er unheilbar an Krebs erkrankte, schrieb er einen zu Tränen rührenden öffentlichen Abschiedsbrief, dessen Weisheit ehrfürchtig macht.

Was das alles mit HiFi zu tun hat? In einem seiner letzten Bücher beschäftigte sich Sacks mit Musikophilie. Er zitierte zunächst die Verwunderung der „Overlords“, hochkognitiver Aliens in Arthur C. Clarkes Novelle „Childhood’s End“:

„Wie merkwürdig doch der Anblick einer ganzen Spezies ist – Milliarden von Menschen, die mit bedeutungslosen Tonmustern spielen und ihnen lauschen, die einen großen Teil ihrer Zeit mit etwas beschäftigt sind, was sie Musik nennen und darin völlig versinken.“

Wem von uns Hifi-Aficionados ist das fremd? Das Vertiefen in etwas, das keinen rationalen Zugang bietet – außer der Analyse, wie gut ein Ton auf der einen Anlage klingt und auf der anderen eben nicht. Das ist faszinierend, obwohl gute Anlagen sehr schnell entscheiden, wer „der Bessere“ ist. Aber macht das den einzigen Reiz aus?

Wohl eher nicht. Kann man jemandem, der nicht an Musik interessiert ist, erklären, was einen an der Musik interessiert? Auch kaum vorstellbar. Oliver Sacks liefert uns die neurowissenschaftliche Seite dazu. Unser Gehirn leistet auch da seinen Beitrag. Können Sie sich vorstellen, dass Sie einen Unfall haben und danach ist Ihre Beziehung zu Musik eine andere? Nicht vorstellbar? Doch möglich ist es.

Hören Sie Oliver Sacks und einem seiner Patienten zu, einem toughen Ex-Football-Spieler, inzwischen anerkannter orthopädischer Chirurg. Er macht einen Anruf von einer Telefonzelle – als genau daneben ein Blitz einschlägt. Nahtod-Erlebnis, Wiederbelebungsmaßnahmen, ärztliche Untersuchungen … er kommt knapp davon. Und glaubt, so weiterleben zu können wie bisher (ich war selber mal für tot erklärt – ich kenne das Gefühl, das zu wollen). Aber er merkt, es hat sich etwas verändert. Er bekommt den unwiderstehlichen Drang, Musik zu hören. Anstelle von Rock-Musik – vorher war er ein Musik-Muffel, aber Rock war das einzige, was er akzeptieren konnte – giert es ihn auf einmal nach Klassik. Genauer gesagt nach Vladimir Ashkenazys Aufnahmen von Chopin. Er kauft eine Platte nach der anderen. Bis das nicht mehr ausreicht. Er bringt sich bei, selbst zu spielen.

In Träumen beginnen ihm Melodien zu begegnen, die er niederschreiben muss. Er beschreibt dies nicht als Halluzinationen, so fühlt es sich nicht an, sondern als Inspirationen. Drei Monate nach seinem Nahtod-Erlebnis ist er besessen von seiner Musik. Er kommt zu dem Schluss: „Der einzige Grund, warum ich überleben durfte, war Musik.“

Jahre später ist er weiterhin erfolgreicher Chirurg, aber Herz und Seele konzentrieren sich weiterhin in jedem freien Moment auf Musik. Was will uns dies sagen? Nicht jeder von uns hatte ein Nahtod-Erlebnis. Aber dieses Beispiel zeigt uns, dass Musik zu den Bedürfnissen unseres Gehirns gehört – oder zumindest zu einem werden kann. Über einen längeren Zeitraum schleichend, oder auch schicksalsbedingt auf einmal. Und wer einfach Feuer gefangen und den Blitzeinschlag erlebt hat, wer wirklich Musik erlebt hat, den lässt sein Gehirn das niemals vergessen. Für das Gehirn ist es neurologisch egal, ob der Impuls von einem Blitzschlag oder einer Hifi-Anlage kommt! Beides löst elektrisch getriggerte, neuronale Aktivität aus. Und beides kann zu einem Bedürfnis führen, das anscheinend ein Grundbedürfnis der Menschheit ist – Musik!

Claudia S.


Literatur: Oliver Sacks: „Der einarmige Pianist: Über Musik und das Gehirn“. Rowohlt.

Spiegel-Interview mit Oliver Sacks vom 10.03.2008: „Schimpansen tanzen nicht“
Der New Yorker Neurologe und Autor Oliver Sacks über Musik als Heilmittel, akustische Halluzinationen und die Gefahr allgegenwärtiger Beschallung

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